Das Eisen und die Seele1

10 Minuten Lesezeit

Henry Rollins

Das Eisen

Ich glaube, dass die Definition von “Definition” die Neuerfindung ist. Nicht wie Deine Eltern zu sein. Nicht wie Deine Freunde zu sein. Du selbst zu sein.

Vollständig.

Als ich jung war, hatte ich keine Vorstellung von mir selbst. Alles was ich war, war das Produkt aller Ängste und Demütigungen, die ich ertragen musste. Die Angst vor meinen Eltern. Die Demütigung meiner Lehrer, die mich “Mülltonne” nannten und mir voraussagten, dass ich meinen Lebensunterhalt mit Rasenmähen bestreiten würde. Das ganz reale Grauen vor meinen Mitschülern. Ich bin wegen meiner Hautfarbe und meiner Größe bedroht und zusammengeschlagen worden. Ich bin dürr und tollpatschig gewesen und wenn die anderen mich gehänselt haben, bin ich nicht weinend nach Hause gelaufen um mich zu fragen, warum.

Ich wusste das nur zu gut. Ich existierte, um angefeindet zu werden. Im Sport wurde ich ausgelacht. Ein “Spasti”. Ich war ziemlich gut im Boxen, aber nur weil ich in jedem wachen Moment voller Wut war, die mich wild und unvorhersehbar machte. Ich kämpfte mit einer eigenartigen Raserei. Die anderen Jungs dachten, ich bin verrückt.

Ich habe mich selbst die ganze Zeit gehasst.

So dämlich das jetzt wirken mag, ich wollte reden wie sie, mich anziehen wie sie, die Ruhe und Leichtigkeit des Wissens ausstrahlen, dass ich nicht zwischen den Unterrichtsstunden auf dem Flur zusammengeschlagen werden würde. Jahre vergingen und ich habe gelernt, das alles innen drin zu behalten. Ich habe nur mit wenigen anderen Jungs aus meinem Jahrgang geredet. Andere Verlierer. Bis heute sind einige von ihnen die großartigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Wenn Du mit einem Typen abhängst, dessen Kopf schon ein paar mal in die Kloschüssel getaucht worden ist, Du ihn mit Respekt behandelst, dann findest Du einen auf ewig treuen Freund. Aber sogar mit Freunden war die Schule zum Kotzen. Die Lehrer machten mir das Leben schwer.

Ich habe von ihnen auch nicht viel gehalten.

Dann kam Herr Pfeffermann2, mein Studienberater. Er war ein kräftig gebauter Vietnam-Veteran und er war furchteinflößend. Niemals redete jemand in seinem Unterricht außer der Reihe. Ein Typ machte das einmal und Herr Pfeffermann hob ihn hoch und nagelte ihn an die Tafel. Herr P. sah sofort, dass ich in schlechter Verfassung war. Eines Freitags im Oktober fragte er mich, ob ich schon mal mit Gewichten trainiert hätte. Ich verneinte.

Er machte mir klar, dass ich etwas von meinem gesparten Geld nehmen würde, um einen Satz 50-Kilo-Gewichte bei Sears zu kaufen. Beim Verlassen seines Büros überlegte ich mir schon, was ich ihm am Montag zu den Gewichten erzähle, die ich nicht kaufen würde. Trotzdem fühlte ich mich aber irgendwie besonders. Mein Vater hat sich nie so um mich gekümmert. Am Samstag kaufte ich dann die Gewichte, aber ich konnte sie nicht mal zum Auto meiner Mutter schleifen. Ein Angestellter lachte mich aus, als er sie auf einen Rollwagen legte.

Der Montag kam und ich wurde ins Büro von Herrn P. gerufen. Er sagte, er würde mir zeigen, wie man trainiert. Er wollte mich in ein Trainingsprogramm aufnehmen und mir ab und an auf dem Flur auf den Solar Plexus hauen, wenn ich gerade nicht aufpasste. Falls ich den Schlag aushalten würde, dann würden wir wissen, dass ich Fortschritte machte. Ich durfte mich auf keinen Fall im Spiegel anschauen oder irgendwem in der Schule davon erzählen. Im Trainingsraum hat er mir zehn Grundübungen gezeigt. Ich habe so gut aufgepasst wie noch nie zuvor in der Schule. Ich wollte es nicht verkacken. Ich ging an diesem Abend nach Hause und fing sofort an.

Wochen vergingen und von Zeit zu Zeit verpasste Herr P. mir einen Schlag, der mich umhaute und meine Bücher durch die Luft segeln ließ. Die anderen Schüler wussten nicht, was sie davon halten sollten. Weitere Wochen vergingen und ich packte stetig zusätzliches Gewicht auf die Hantelstange. Ich merkte, wie die Kraft in meinem Körper wuchs. Ich konnte es fühlen.

Kurz vor der Weihnachtspause ging ich gerade zum Unterricht, als Herr Pfeffermann plötzlich aus dem Nichts auftauchte und mir einen Schlag auf die Brust gab. Ich lachte und ging einfach weiter. Er sagte, jetzt kann ich mich selbst anschauen. Ich kam nach Hause, rannte ins Badezimmer und zog mein T-Shirt aus. Ich sah einen Körper, nicht nur die Hülle für meinen Bauch und mein Herz. Mein Bizeps wölbte sich. Meine Brust hatte Definition. Ich fühlte mich stark. Soweit ich mich erinnern kann, war es das erste Mal, dass ich eine Vorstellung von mir selbst hatte. Ich hatte etwas erreicht, was mir niemals jemand wieder wegnehmen konnte.

Mir konnte keiner irgendwelchen Scheiß erzählen.

Es kostete mich Jahre, bis ich den Wert der Lektionen wirklich schätzen konnte, die mich Das Eisen3 gelehrt hat. Ich dachte erst, dass es mein Gegner wäre, dass ich etwas heben wollte, was nicht gehoben werden wollte. Ich lag falsch. Wenn Das Eisen nicht vom Boden hochkommen möchte, dann ist es das Gütigste, was es für Dich tun kann. Denn falls es einfach hochfliegen und durch die Decke gehen würde, dann würde es Dich ja nichts lehren. Das ist der Weg, wie Das Eisen mit Dir spricht. Es sagt Dir, dass Du dem Material ähneln wirst, mit dem Du arbeitest.

Das, wogegen Du arbeitest, wird auch immer gegen Dich arbeiten.

Erst in meinen späten Zwanzigern begriff ich, dass ich mir selbst durch das Training ein wunderbares Geschenk gemacht hatte. Ich habe gelernt, dass ohne Anstrengung und eine bestimmte Menge an Schmerz nichts Gutes entsteht. Wenn ich einen Trainingssatz beende und ich danach zittere, dann weiß ich mehr über mich. Wenn die Dinge schlecht laufen, dann weiß ich, es kann nicht so schlimm sein, wie dieses Training.

Ich habe sonst gegen den Schmerz angekämpft, aber kürzlich ist mir klar geworden: Schmerz ist nicht mein Feind; es ist der Ruf für mich, großartig zu sein. Aber beim Hantieren mit Dem Eisen muss man aufpassen, den Schmerz richtig zu interpretieren. Die meisten Verletzungen rund um Das Eisen werden vom eigenen Ego verursacht. Ich habe mal ein paar Wochen mit Gewichten trainiert, für die mein Körper noch nicht bereit war. Und so verbrachte ich dann einige Monate damit, nichts Schwereres als eine Gabel zu heben. Wenn Du versuchst, etwas zu heben, für das Du nicht bereit bist, dann wird Das Eisen Dir eine kleine Lektion in Zurückhaltung und Selbstbeherrschung erteilen.

Ich habe noch nie eine wirklich starke Person getroffen, die keine Selbstachtung hatte. Ich glaube, viel nach innen und nach außen gerichtete Verachtung tarnt sich als Selbstachtung: Die Vorstellung, sich selbst zu erhöhen, indem man auf die Schultern von wem anders steigt, anstatt es alleine zu schaffen. Wenn ich Typen sehe, die aus kosmetischen Gründen trainieren, dann sehe ich, wie die Eitelkeit sie auf die schlimmste Art und Weise bloßstellt. Wie Zeichentrickfiguren, Werbetafeln für Unausgeglichenheit und Unsicherheit. Stärke offenbart sich durch Charakter. Das ist der Unterschied zwischen Rausschmeißern, denen einer abgeht, wenn sie Leute einschüchtern und Herrn Pfeffermann.

Muskelmasse ist nicht immer gleich Stärke. Stärke ist Güte und Feingefühl. Stärke ist das Verständnis, dass Deine Kraft sowohl physisch als auch emotional ist. Dass sie vom Körper und vom Geist ausgeht. Und vom Herzen.

Yukio Mishima sagte einmal, er könne sich nicht mit dem Gedanken an eine Liebesbeziehung anfreunden, wenn er nicht stark sei. Eine Liebesbeziehung ist eine so starke und überwältigende Leidenschaft, die ein geschwächter Körper nicht lange durchhalten kann. Ich habe einige der liebevollsten Gedanken, wenn bei Dem Eisen bin. Einmal war ich in eine Frau verliebt. Ich dachte an sie am meisten, wenn der Schmerz eines harten Trainings durch meinen Körper raste.

Alles in mir wollte sie. So intensiv, dass Sex nur einen Bruchteil meines gesamten Verlangens ausmachte. Es war die intensivste Liebe, die ich je gespürt habe, aber sie wohnte weit weg und ich konnte nicht oft bei ihr sein. Das Training war ein gesunder Weg, mit dem Alleinsein klarzukommen. Bis heute höre ich beim Training normalerweise Balladen.

Ich ziehe es vor alleine zu trainieren.

Dies ermöglicht es mir, mich auf die Lektionen zu konzentrieren, die Das Eisen2 für mich hat. Es ist immer gut investierte Zeit zu lernen, aus welchem Holz man geschnitzt ist und ich habe keinen besseren Lehrmeister gefunden. Das Eisen hat mich gelehrt, wie ich zu leben habe. Das Leben kann einen schon um den Verstand bringen. Es ist ein Wunder, wenn man nicht irre ist, so wie die Dinge heutzutage laufen. Die Menschen sind von ihren Körpern getrennt worden. Sie sind nicht mehr vollständig.

Ich sehe, wie sie sich von ihren Büros zu ihren Autos und zu ihren Vorstadthäusern bewegen. Sie stehen immer unter Stress, schlafen schlecht, essen schlecht. Und sie benehmen sich schlecht. Ihre Egos drehen durch. Sie werden von dem motiviert, was ihnen letztendlich einen Schlaganfall beschert. Sie brauchen den Eisernen Geist.

Im Laufe der Jahre habe ich Meditation, die Fähigkeit zu Handeln und Das Eisen zu eine einzigen Stärke kombiniert. Ich glaube, wenn der Körper stark ist, dann denkt der Geist auch starke Gedanken. Wenn ich Zeit ohne Das Eisen verbinge, dann verfällt mein Geist. Ich suhle mich dann in schweren Depressionen. Mein Körper fährt dann meinen Geist herunter.

Das Eisen ist das beste Antidepressivum, das ich je entdeckt habe. Schwäche lässt sich am besten mit Stärke bekämpfen. Sobald mein Geist und mein Körper erst einmal auf Kurs zu ihrem wahren Potential sind, gibt es kein Zurück mehr.

Das Eisen lügt Dich niemals an. Du kannst draußen herumlaufen und Dir alles mögliche an Gelaber anhören, Leute sagen Dir, Du bist ein Gott oder ein absolutes Arschloch. Das Eisen wird Dir immer das einzige Wahre zeigen. Das Eisen ist der große Referenzpunkt, der Allwissende, der Dir die Perspektive zeigt. Immer für Dich da wie ein Leuchtfeuer in der pechschwarzen Dunkelheit. Ich habe Das Eisen als meinen besten Freund kennengelernt. Es flippt nie aus, haut nie ab. Freunde können kommen und gehen. Aber hundert Kilo sind immer hundert Kilo.


Fußnoten

  1. Dies ist eine deutsche Übersetzung des Artikels “Iron and the Soul” von Henry Rollins, der 1994 in der Zeitschrift Details erschienen ist. Eine online Version ist hier verfügbar: https://www.oldtimestrongman.com/articles/the-iron-by-henry-rollins/

  2. Um Denglisch zu vermeiden, wird “Mr. Pepperman” hier zu “Herr Pfeffermann”. :face_with_peeking_eye:  2

  3. Henry Rollins schreibt im englischen Original “the Iron”, mit großem “I”. Um diese Besonderheit in der Übersetzung widerzuspiegeln, habe ich mich für “Das Eisen” entschieden. Ich habe dies auch in den deutschen Titel aufgenommen, indem ich dort den Artikel “Das” mit aufgenommen habe. (Im original Titel verwendet Rollins lediglich “Iron” ohne bestimmten Artikel.)