Es ist das Charisma, Dummerchen1
Paul Graham
Ockhams Rasiermesser besagt, dass wir die einfachere von zwei Erklärungen bevorzugen sollten. Ich erinnere die Leser gleich zu Beginn an dieses Prinzip, weil ich eine Theorie vorschlagen werde, die beiden politischen Lagern nicht gefallen wird. Aber Ockhams Rasiermesser bedeutet letztendlich, dass man ziemlich große Zufälle erklären muss, wenn man ihm widersprechen möchte.
Theorie: Bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnt der charismatischere Kandidat.
Menschen, die über Politik schreiben – ob sie auf der linken oder der rechten Seite zu verorten sind – haben eine einheitliche Neigung: Sie nehmen Politik ernst. Wenn ein Kandidat einen anderen besiegt, suchen sie nach politischen Erklärungen. Das Land rückt nach links oder nach rechts. Und dieser Ruck kann tatsächlich das Ergebnis einer Präsidentschaftswahl sein…was es leicht macht, zu glauben, dass sie die Ursache war.
Aber wenn ich darüber nachdenke, warum ich für Clinton und nicht für den ersten George Bush gestimmt habe, dann nicht, weil ich nach links gerückt wäre. Clinton schien einfach energiegeladener zu sein. Er schien den Job mehr zu wollen. Bush wirkte alt und müde. Ich vermute, dass es vielen Wählern genauso ergangen ist.
Clinton stand nicht für einen nationalen Linksruck [A1]. Er war einfach charismatischer als George Bush oder – Gott steh uns bei – Bob Dole. Im Jahr 2000 gab es praktisch ein kontrolliertes Experiment, um dies zu beweisen: Gore hatte Clintons politische Inhalte, aber nicht sein Charisma, und er bezahlte entsprechend dafür [A2]. Das Gleiche gilt für 2004. Kerry war cleverer und wortgewandter als Bush, aber eher steif. Und Kerry hat verloren.
Als ich zeitlich noch weiter zurückblickte, fand ich immer wieder das gleiche Muster. Die Experten sagten, Carter habe Ford geschlagen, weil das Land den Republikanern nach Watergate misstraute. Doch gleichzeitig war Carter für sein breites Grinsen und seine volkstümliche Art bekannt, während Ford als langweiliger Tollpatsch galt. Vier Jahre später sagten Experten, das Land sei nach rechts gerückt. Aber Reagan – ein ehemaliger Schauspieler – war zufällig noch charismatischer als Carter – dessen Grinsen nach vier stressigen Jahren im Amt etwas weniger fröhlich war. 1984 war der Charismaunterschied zwischen Reagan und Mondale ähnlich groß wie der zwischen Clinton und Dole, mit ähnlichen Ergebnissen. Der erste George Bush schaffte es 1988 zu gewinnen, obwohl er später von einem der charismatischsten Präsidenten aller Zeiten besiegt werden sollte, denn 1988 trat er gegen den offenkundig uncharismatischen Michael Dukakis an.
Dies sind die Wahlen, an die ich mich persönlich erinnere, aber offenbar spielte sich das gleiche Muster 1964 und 1972 ab. Das jüngste Gegenbeispiel scheint 1968 zu sein, als Nixon den charismatischeren Hubert Humphrey schlug. Betrachtet man jedoch diese Wahl genauer, so spricht sie doch eher für die Charisma-Theorie als gegen sie. Wie Joe McGinnis in seinem berühmten Buch “The Selling of the President 1968” berichtet, wusste Nixon, dass er weniger Charisma hatte als Humphrey. Er weigerte sich daher einfach, mit ihm im Fernsehen zu debattieren. Er wusste, dass er es sich nicht leisten konnte, dass die beiden nebeneinander gesehen werden.
Heutzutage könnte ein Kandidat wahrscheinlich nicht mehr damit durchkommen, sich einer Debatte zu verweigern. Aber 1968 waren im Fernsehen übertragene Debatten noch im Entstehen begriffen. Tatsächlich gewann Nixon 1968, weil die Wähler nie den echten Nixon sehen durften. Alles, was sie sahen, waren sorgfältig gescriptete Wahlwerbespots.
Merkwürdigerweise ist das jüngste echte Gegenbeispiel wahrscheinlich 1960. Obwohl diese Wahl gewöhnlich als Beispiel für die Macht des Fernsehens gilt, hätte Kennedy ohne Betrug durch Parteiseilschaften in Illinois und Texas offenbar nicht gewonnen.2 Aber das Fernsehen war 1960 noch jung; nur 87% der Haushalte hatten es [A3]. Zweifellos hat das Fernsehen Kennedy geholfen, so dass Historiker diese Wahl zu Recht als einen Wendepunkt betrachten. Das Fernsehen erforderte eine neue Art von Kandidaten. Es würde keine Calvin Coolidges mehr geben.
Die Charisma-Theorie kann auch erklären, warum die Demokraten dazu neigen, Präsidentschaftswahlen zu verlieren. Der Kern der Ideologie der Demokraten scheint der Glaube an den Staat zu sein. Vielleicht zieht dies Menschen an, die ernst, aber langweilig sind. Dukakis, Gore und Kerry waren sich in dieser Hinsicht so ähnlich, dass sie Brüder hätten sein können. Gut für die Demokraten, dass ihr Raster gelegentlich auch einen Clinton durchlässt, selbst wenn es zu Skandalen kommt. [A4]
Man möchte glauben, dass Wahlen über Inhalte gewonnen und verloren werden, und seien es auch nur Schein-Inhalte wie Willie Horton.3 Doch wenn dem so sein sollte, müssten wir einen bemerkenswerten Zufall erklären. Bei jeder Präsidentschaftswahl seit dem Durchbruch des Fernsehens hat der offensichtlich charismatischere Kandidat gewonnen. Erstaunlich, nicht wahr, dass die Meinungen der Wähler zu Inhalten 11 Wahlen in Folge mit dem Charisma übereinstimmen?
Die politischen Kommentatoren, die in ihren morgendlichen Analysen von dem Links- oder Rechtsruck berichten, sind wie Finanzjournalisten, die Tag für Tag Geschichten über die zufälligen Schwankungen des Aktienmarktes schreiben. Der Tag geht zu Ende, der Markt schließt mit einem Plus oder einem Minus, Journalisten suchen nach guten bzw. schlechten Nachrichten und schreiben, dass der Markt aufgrund der Gewinne von Intel gestiegen oder aufgrund der Angst vor Instabilität im Nahen Osten gefallen ist. Nehmen wir an, wir könnten diese Journalisten irgendwie mit falschen Informationen über den Börsenschluss füttern, ihnen aber alle anderen Nachrichten unverändert übermitteln. Glaubt irgendjemand, dass sie die Anomalie bemerken würden und nicht einfach schreiben würden, dass die Aktien aufgrund der guten (oder schlechten) Nachrichten an diesem Tag gestiegen (oder gefallen) sind? Dass sie sagen würden: Hey, Moment mal, wie können die Aktien bei all den Unruhen im Nahen Osten steigen?
Ich will damit nicht sagen, dass Inhalte für die Wähler nicht wichtig sind. Natürlich sind sie das. Aber die großen Parteien wissen so gut, welche Inhalte für wie viele Wähler wie wichtig sind, und passen ihre Botschaften so präzise an, dass sie dazu neigen, sich bei diesem Punkt in der Mitte zu treffen. Damit lassen die Wahl durch den einen Faktor entscheiden, den sie nicht kontrollieren können: Charisma.
Wenn die Demokraten bei der Wahl 2004 einen so charismatischen Kandidaten wie Clinton aufgestellt hätten, hätte er gewonnen. Wir würden dann lesen, dass die Wahl eine Abstimmung über den Irak-Krieg war, anstatt zu lesen, dass die Demokraten die evangelikalen Christen in Mittelamerika nicht verstehen würden.
Während der Wahl 1992 hatten die Mitarbeiter der Clinton-Kampagne ein großes Schild mit der Aufschrift „It’s the economy, stupid“ (dt. „Es ist die Wirtschaft, Dummerchen.“) in ihren Büros . Vielleicht war es noch einfacher, als sie dachten.
Nachtrag
Die Meinungen zur Charisma-Theorie scheinen auseinander zu gehen. Die einen meinen, sie sei unmöglich, die anderen, sie sei offensichtlich. Das scheint ein gutes Zeichen zu sein. Vielleicht liegt die Wahrheit genau in der Mitte dazwischen.
Zum Thema “unmöglich” antworte ich: Hier sind die Daten; hier ist die Theorie; die Theorie erklärt die Daten zu 100%. Für einen Wissenschaftler zumindest bedeutet das, dass die Theorie Beachtung verdient, auch wenn sie noch so unplausibel erscheint.
Wir können doch nicht glaube, dass die Wähler so oberflächlich sind, einfach die charismatischste Person zu wählen? Meine Theorie setzt das nicht voraus. Ich behaupte nicht, dass Charisma der einzige Faktor ist, sondern nur, dass es der einzige verbleibende Faktor ist, nachdem sich die Anstrengungen der Parteien gegenseitig aufheben.
Was die Offensichtlichkeit der Theorie angeht: Meines Wissens hat sie noch niemand vorgeschlagen. Wahlforscher sind stolz, wenn sie die gleichen Ergebnisse mit deutlich komplexeren Modellen erzielen können.
Und zuguterletzt an diejenigen, die sagen, dass die Theorie vermutlich wahr, aber eher deprimierend ist: Das ist nicht so schlimm, wie es scheint. Das Phänomen ist so ähnlich wie eine Preisanomalie: Sobald die Leute erkennen, dass es sie gibt, wird sie verschwinden. Sobald also die Parteien erkennen, dass es Zeitverschwendung ist, uncharismatische Kandidaten zu nominieren, werden sie dazu neigen, nur noch die charismatischsten Kandidaten zu nominieren. Und wenn die Kandidaten gleichermaßen charismatisch sind, wird sich das Charisma gegenseitig aufheben. Somit werden die Wahlen dann nach Sachfragen entschieden, ganz so wie politische Kommentatoren gerne glauben, dass es jetzt schon so sei.
Anmerkungen (im Original von Paul Graham)
[A1] Dies musste Bill Clinton selbst zu seiner Überraschung feststellen, als er als eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident versuchte, das Militär politisch nach links zu verschieben. Nach einer erbitterten Auseinandersetzung kam er mit einem gesichtswahrenden Kompromiss davon.
[A2] Es stimmt, Al Gore hat die “Popular Vote” gewonnen. Aber Politiker wissen, dass das “Electoral College” die Wahl entscheidet, auf dieser Grundlage machen sie Wahlkampf. Hätte George W. Bush für die “Popular Vote” Wahlkampf betrieben, hätte er vermutlich mehr von diesen Stimmen bekommen. (Danke an judgmentalist für diesen Hinweis.)
[A3] Quelle: Nielsen Media Research. Von den verbleibenden 13% hatten 11% keinen Fernseher, weil sie ihn sich nicht leisten konnten. Ich würde behaupten, dass die fehlenden 11% wahrscheinlich auch die 11% sind, die am empfänglichsten für Charisma sind. Anmerkung bei der Übersetzung: Hierfür habe ich keine zuverlässige/öffentliche Quelle gefunden, die diese Zahlen bestätigt.
[A4] Eine Konsequenz dieser Theorie ist, dass Parteien Kandidaten mit Leichen im Keller nicht so voreilig ablehnen sollten. Charismatische Kandidaten neigen dazu, mehr Leichen im Keller zu haben als blitzsaubere Langweiler, aber in der Praxis scheint das nicht zu Verlusten an Wählerstimmen zu führen. Zum Beispiel hat George W. Bush in seinen Zwanzigern wahrscheinlich mehr Drogen konsumiert, als jeder andere Präsident vor ihm. Trotzdem hat er es geschafft, mit einer soliden Basis an evangelikalen Christen gewählt zu werden. Man muss nur sagen, dass man geläutert ist, und zu den Details schweigen.
Vielen Dank an Trevor Blackwell, Maria Daniels, Jessica Livingston, Jackie McDonough und Robert Morris, die Entwürfe dieses Essays gelesen haben und an Eric Raymond, der darauf hingewiesen hat, dass ich mich im Bezug auf 1968 geirrt habe. (Dies bezieht sich auf das englische Original von Paul Graham.)
Fußnoten
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Dies ist eine deutsche Übersetzung des Artikels “It’s Charisma, Stupid” von Paul Graham, der im November 2004 erschienen und im Juni 2006 überarbeitet worden ist. https://www.paulgraham.com/charisma.html. ↩
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“Es gab weit verbreitete Vorwürfe des Wahlbetrugs, vor allem in Texas, wo Kennedys Mit-Kandidat Lyndon B. Johnson Senator war, und in Illinois, der Heimat der mächtigen “Cook County Democratic Party” von Bürgermeister Richard J. Daley. Die beiden Staaten waren wichtig, denn wenn Nixon beide gewonnen hätte, wäre er mit 270 Wahlmännerstimmen zum Präsidenten gewählt worden. Mit einer mehr als die 269, die für den Wahlsieg nötig waren. Republikanische Senatoren wie Everett Dirksen und Barry Goldwater behaupteten, Wahlbetrug habe bei der Wahl eine Rolle gespielt und Nixon habe in Wirklichkeit die landesweite Abstimmung gewonnen. Earl Mazo, ein Journalist, der Nixons Biograf war, erhob ebenfalls den Vorwurf des Wahlbetrugs.” Als Ursprung hierfür die Englische Quelle, in der Deutschen Version dieses Wikipedia-Artikels fehlt (derzeit) jeder Hinweis auf den Wahlbetrug. https://en.wikipedia.org/wiki/1960_United_States_presidential_election#Allegations_of_vote_fraud ↩
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William R. “Willie” Horton ist ein verurteilter Mörder, auf den George Bush im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfs 1988 mehrfach Bezug genommen hat, um seinem Kontrahenten Michael Dukakis Versagen im Umgang mit Kriminalität vorzuwerfen. https://en.wikipedia.org/wiki/Willie_Horton ↩