Wie man nicht einer Meinung ist1
Paul Graham
Das Web verwandelt das Schreiben in eine Unterhaltung. Vor 20 Jahren haben Autoren geschrieben und Leser haben gelesen. Das Web ermöglicht es nun den Lesern zu antworten und dies tun sie zunehmend – in Kommentar-Threads2, Foren und in ihren eigenen Blog-Beiträgen.
Viele antworten auf etwas dem sie nicht zustimmen. Dies ist zu erwarten. Bei Zustimmung neigen Menschen dazu, weniger motiviert zu sein als wenn sie nicht zustimmen. Wenn man zustimmt, gibt es auch meist weniger zu sagen. Man könnte etwas, das der Autor geschrieben hat weiter ausführen, aber er hat vermutlich die interessantesten Implikationen bereits untersucht. Wenn man aber nicht derselben Meinung ist, dann betreten wir ein Gebiet, das der Autor womöglich selbst noch nicht erforscht hat.
Dies führt dazu, dass es mehr Widerspruch und viele verschiedene Meinungen gibt, vor allem gemessen an der Anzahl der Wörter. Es bedeutet aber nicht, dass Menschen generell wütender werden. Der strukturelle Wandel unserer Art zu kommunizieren reicht dafür schon. Aber obwohl Wut nicht der Grund für den Anstieg an Widerspruch und verschiedenen Meinung ist, so besteht doch die Gefahr, dass diese Meinungsverschiedenheiten die Menschen wütender machen. Dies trifft wohl insbesondere online zu, wo man leicht Dinge schreibt, die man so niemals von Angesicht zu Angesicht sagen würde.
Wenn wir alle schon zunehmend unterschiedlicher Meinung sind, dann sollten wir aufpassen, dies auch auf gute Art und Weise zu sein. Was bedeutet es “gut” unterschiedlicher Meinung zu sein? Die meisten Leser kennen den Unterschied zwischen Beschimpfungen und einem sorgfältig durchdachten Gegenargument, aber ich glaube es würde uns helfen, die unterschiedlichen Zwischenstadien zu benennen. Hier ist also der Versuch einer Hierarchie der Meinungsverschiedenheit:
HdM0. Beschimpfungen
Dies ist die niedrigste Form der Meinungsverschiedenheit und vermutlich auch die häufigste. Wir haben alle schon Kommentare wie diesen gesehen:
du bist eine schwuchtel!!!!!!!!!!
Es ist aber wichtig zu verstehen, dass sprachgewandte Beschimpfungen genausowenig Gewicht haben. Ein Kommentar wie
Der Autor ist ein selbstgefälliger Dilettant ist in Wirklichkeit nicht weiter als die prätentiöse Version von “du bist eine schwuchtel”.
HdM1. Ad Hominem3
Ein “Ad Hominem”-Angriff ist nicht ganz so schwach wie eine bloße Beschimpfung. Er mag sogar tatsächlich etwas Gewicht haben. Wenn beispielsweise ein Senator4 einen Artikel schreiben würde, in dem er die Anhebung der Bezüge für Senatoren fordert, könnte man antworten:
Natürlich fordert er das. Er ist ein Senator.
HdM2. Auf den Tonfall eingehen
HdM3. Widerrede
HdM4. Gegenargument
HdM5. Widerlegung
HdM6. Widerlegung des zentralen Arguments
Was dies bedeutet
!Original: ElelandVector: Antonsusi, Public domain, via Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Graham%27s_Hierarchy_of_Disagreement-de.svg
Fußnoten
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Dies ist eine deutsche Übersetzung des Artikels “How to Disagree” von Paul Graham, der im März 2008 erschienen ist. http://paulgraham.com/disagree.html ↩
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“m Zusammenhang speziell mit dem Internet bezeichnet der Begriff Thread (englisch thread ‚Faden‘, ‚Strang‘) eine hierarchische Abfolge von Online-Diskussionsbeiträgen […]” https://de.wikipedia.org/wiki/Thread_(Internet) ↩
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“Unter einem argumentum ad hominem (lateinisch etwa „Beweis[führung] [bezogen] auf den Menschen“) wird ein Scheinargument (Red Herring) verstanden, in dem die Position oder These eines Streitgegners durch Angriff auf dessen persönliche Umstände oder Eigenschaften angefochten wird.” https://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum_ad_hominem ↩
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Ein Mitglied des Senats der Vereinigten Staaten. https://de.wikipedia.org/wiki/Senat_der_Vereinigten_Staaten ↩