Kayfabe1
Eric R. Weinstein
Das raffinierte „wissenschaftliche Konzept“ mit dem größten Potential, das menschliche Verständnis zu erweitern, kommt nicht aus den Hallen der Wissenschaft, sondern aus dem unwahrscheinlichen Forschungsumfeld des professionellen Wrestlings.
Die Evolutionsbiologen Richard Alexander und Robert Trivers haben in ihrer Forschung hervorgehoben,2 dass in Systemen mit Selektionsdruck3 häufig eher die Täuschung als die Information die entscheidende Rolle spielt. Der größte Teil unseres Denkens behandelt Täuschung jedoch nach wie vor als eine Art Störung des Austauschs reiner Informationen. Dadurch sind wir nicht darauf vorbereitet über eine Welt nachzudenken, in der Täuschungen zuverlässig das Echte verdrängen können. Insbesondere scheint der zukünftige Selektionsdruck der Menschheit weiterhin an Wirtschaftstheorien gekoppelt zu sein, die derzeit auf einem Marktmodell mit der Prämisse vollkommener Information4 basieren.
Wenn wir die Selektion bei Menschen ernster nehmen wollen, können wir mit gutem Grund fragen, welches strenge System in der Lage wäre, eine veränderte Realität aus geschichteten Unwahrheiten zusammenzuhalten, in der vermutlich absolut nichts so ist, wie es scheint. Ein solches System, das seit mehr als einem Jahrhundert kontinuierlich weiterentwickelt wird, existiert bereits und trägt ein komplexes Multi-Milliarden-Dollar-Geschäftsimperium aus reinem Nonsens. Wrestling-Insider kennen dieses System unter dem Namen „Kayfabe5.“
Da es sich beim professionellen Wrestling um die Simulation einer Sportart handelt, sind alle Kämpfer, die sich im Ring gegenüberstehen, eigentlich enge Kollaborateure. Diese müssen ein geschlossenes System bilden, das gegen Nichteingeweihte abgeschottet ist und „Promotion“ genannt wird. Da externe Kämpfer bzw. Konkurrenten in der Regel ausgeschlossen sind, werden die Gegner innerhalb der Promotion ausgewählt. Ihre ritualisierten Kämpfe werden im Wesentlichen ausgehandelt, choreografiert und geprobt, wodurch das Risiko von Verletzungen oder Todesfällen stark verringert wird. Da die Ergebnisse im Rahmen von Kayfabe vorherbestimmt sind, entsteht Verrat im Wrestling nicht durch unsportliches Verhalten, sondern durch das überraschende Auftreten von wirklichem sportlichen Verhalten. Solch unerwünschtes sportliches Verhalten, das „gegen Kayfabe verstößt,“ wird als „shooting“ (dt. schießen) bezeichnet, um es von der erwarteten Täuschung zu unterscheiden, die als „working“ (dt. arbeiten) bezeichnet wird.
Falls Kayfabe Teil unseres Werkzeugkastens für das einundzwanzigste Jahrhundert werden würde, würde es uns zweifelsfrei einfacher fallen, eine Welt zu verstehen, in der investigativer Journalismus verschwunden zu sein scheint und erbitterte Unternehmensrivalen bei allem kooperieren, von Joint Ventures bis hin zur Lobbyarbeit. Vielleicht könnten die verwirrenden Auseinandersetzungen zwischen den „Freshwater“-Makroökonomen aus Chicago und den „Saltwater“-Theoretikern der Ivy League6 am besten als eine einzige „orthodoxe Promotion“ verstanden werden – auch weil beide Gruppen keinen Schaden davongetragen haben, dass sie (gleichermaßen) die jüngste Finanzkrise nicht vorhersagen konnten. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung in der theoretischen Physik um die Vorreiterrolle zwischen dem „String“- und dem „Loop“-Lager würde wie ein noch aussagekräftigeres Beispiel für eine „kollaborative intra-Promotion Rivalität“ innerhalb der harten Wissenschaften erscheinen – vor allem wenn man bedenkt, dass es beiden Gruppen offenkundig nicht gelungen ist, eine Theorie der Quantengravitation zu entwickeln.
Was Kayfabe so bemerkenswert macht: Es liefert uns das möglicherweise vollständigste Beispiel für den generellen Prozess, wie eine umfangreiche Klasse von wichtigen Bestrebungen von der gescheiterten Realität zur erfolgreichen Täuschung übergeht.
Die meisten modernen Sport-Enthusiasten kennen den Status des Wrestlings als Pseudo-Sportart. Es wissen aber nur wenige, dass es sich aus einer gescheiterten echten Sportart (bekannt als „Catch“-Wrestling) entwickelt hat, die ihren letzten ehrlichen Titelkampf Anfang des zwanzigsten Jahrhundert hatte. Typische Kämpfe konnten sich über Stunden hinziehen, ohne dass etwas für das Publikum Interessantes passierte…oder Kämpfe endeten sehr plötzlich mit verkrüppelnden Verletzungen eines vielversprechenden Kämpfers, in den viel investiert worden war.
Dies verdeutlicht die enge Beziehung zwischen zwei paradoxen Risiken, die das Wrestling mit anderen menschlichen Interessenbereichen teilt:
- Gelegentliche, aber extreme Gefahr für die Teilnehmer.
- Generelle Monotonie für sowohl die Zuschauer als auch die Teilnehmer.
Die Kayfabisierung (der Prozess von der Realität zu Kayfabe überzugehen) entsteht aus dem Versuch, einem Massenpublikum ein zuverlässig attraktives Produkt zu liefern und gleichzeitig die unvorhersehbaren Risiken zu beseitigen, die die Teilnehmer gefährden. Daher ist die Kayfabisierung eine zuverlässige Eigenschaft von vielen unserer wichtigsten Systeme, die die beiden oben genannten Merkmale aufweisen: Krieg, Finanzwesen, Liebe, Politik und Wissenschaft.
Wichtig ist, dass Kayfabe auch die Grenzen entdeckt zu haben scheint, wie viel Unglauben bzw. Zweifel der menschliche Verstand erfolgreich außer Kraft7 setzen kann, bevor Fantasie und Realität vollständig miteinander verschmelzen. Das Lügensystem des Wrestlings ist in inzwischen so kompliziert geworden, dass Wrestler gelegentlich im wirklichen Leben einen Seitensprung begangen haben, der genau auf eine fiktive ehebrecherische Wendung in einer Kayfabe-Hintergrundgeschichte folgte. Schließlich wurde sogar Kayfabe selbst ein Opfer seines eigenen Erfolgs, da es ein Ausmaß an Täuschung erreichte, das nicht aufrechterhalten werden konnte, als die Wrestling-Welt mit Regulierungsbehörden kollidierte, die die Aufsicht über große Sportveranstaltungen ausübten.
Letztendlich wurde Kayfabe dazu gezwungen sich einzugestehen, dass professionelles Wrestling überhaupt keinen Sport beinhaltet.8 Dadurch hat es mehr getan, als nur zu vermeiden, dass es bis ans Limit reguliert und besteuert wird. Aber das Wrestling entdeckte das Undenkbare: Sein Publikum schien nicht einmal ein Minimum an Realismus zu benötigen. Das professionelle Wrestling war zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt, indem es zuguterletzt die Verantwortung für die Täuschung von den Schultern der Darsteller in den willigen Geist der Zuschauer verlagerte.
Kayfabe ist anscheinend ein Gericht, das am besten Client-seitig9 serviert wird.
Fußnoten
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Dies ist eine deutsche Übersetzung des Artikels “Kayfabe” von Eric R. Weinstein, der 2011 erschienen ist. https://www.edge.org/response-detail/11783. Anlass des Artikels war die Vorstellung eines wissenschaftlichen Konzeptes, das jedermanns kognitiven Werkzeugkasten verbessern würde. Eric Weinstein ist Mathematiker und Volkswirt; er war/ist Geschäftsführer von “Thiel Capital”. https://ericweinstein.org/ ↩
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Richard Alexander wird in einem Interview mit Frans Roes folgendermaßen zitiert: “I once wrote that society has to be a network of lies and deception, and my gosh, everyone thought that was a horrible statement. And it is a horrible statement if you take it as a moral suggestion. But I was giving it as an analysis; we have to suppose, at the outset at least, that there is an enormous amount of deception. I always say to my students: Think of what people do early in the morning. They look in the mirror, shave or use make-up, put deodorant under their arms, use clothes that make their shape look better, and go into their office with a big smile and say “Good morning!”, while they may not feel like that at all. Right from the time you get up in the morning, you set out to deceive everybody. It is almost a humorous thought.”
Mir sind keine gemeinsamen Publikationen von Richard Alexander und Robert Trivers bekannt (bin aber für Hinweise dankbar). Vielleicht bezieht sich Eric Weinstein auf die folgenden beiden Papiere:
Wheldall, Kevin & Alexander, Richard: The Deception Study: A Potential Paradigm for the Evaluation of Generalizability of Social Skills Training. Behavioural and Cognitive Psychotherapy. Volume 13, Issue 4, pages 342–348. October 1985. https://doi.org/10.1017/S0141347300012088.
Trivers, Robert: The Elements of a Scientific Theory of Self-Deception. Annals of the New York Academy of Sciences. Volume 907, Issue 1, pages 114–131. April 2000. https://doi.org/10.1111/j.1749-6632.2000.tb06619.x ↩ -
„Selektionsdruck, auch Evolutionsdruck oder selektiver Druck, bezeichnet die Einwirkung (den „Druck“) eines Selektionsfaktors auf eine Population von Organismen. Selektionsfaktoren sind Umweltfaktoren, die einen Einfluss auf das Überleben einer Population in einer bestimmten Umwelt haben. Besonders im englischen Sprachraum wird dafür auch synonym (aber nicht ganz korrekt) der Begriff evolutionary pressure (englisch für Evolutionsdruck) verwendet, was andeuten soll, dass durch den Vorgang der Selektion ein Resultat, die Evolution in einer Population, stattfindet.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Selektionsdruck ↩
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Eric Weinstein meint hier vermutlich das (stark vereinfachende) Modell des sog. „vollkommenen Marktes.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Vollkommener_Markt ↩
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„Man geht davon aus, dass der Terminus „Kayfabe“ aus dem Pig Latin, einer im Englischen gebräuchlichen Spielsprache stammt, wobei die Begriffe fake (falsch, erfunden) bzw. be fake als Ursprung dienten.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Kayfabe. Es gibt auch eine (englischsprachige) Videoreihe zu dem Thema von Jake Orthwein auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=SZpBvfBxLxc. Die Netflix-Dokumentation “Mr. MacMahon” gibt einen Einblick in die Wrestling-Branche und Kayfabe: https://de.wikipedia.org/wiki/Mr._McMahon. ↩
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Hierbei handelt es sich um zwei unterschiedliche Denkschulen in der Makroökonimie. Diese sind aufgrund der Nähe der entsprechenden Universitäten zu Süßwasser (University of Chicago, Carnegie Mellon University, Cornell University etc.) bzw. Salzwasser (University of California at Berkeley etc.) benannt. https://en.wikipedia.org/wiki/Saltwater_and_freshwater_economics ↩
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In diesem Zusammenhang ist die sog. „Willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ (engl. suspension of disbelief bzw. willing suspension of disbelief) ein interessantes Konzept: https://de.wikipedia.org/wiki/Willentliche_Aussetzung_der_Ungl%C3%A4ubigkeit ↩
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In einem Artikel der New York Times von 1989 mit dem Titel „Now It Can Be Told: These Pro Wrestlers Are Just Having Fun“, sagte ein Sprecher der World Wrestling Federation (WWF) vor dem Senat des Bundesstaates New Jersey aus, dass es sich beim Profi-Wrestling um reine Unterhaltung und nicht um einen Sport handele. Hierbei war das Ziel, das Profi-Wrestling im Bundesstaat zu deregulieren und keine/weniger Steuern zahlen zu müssen. https://www.nytimes.com/1989/02/10/nyregion/now-it-can-be-told-those-pro-wrestlers-are-just-having-fun.html ↩
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Eric Weinstein bezieht sich hier als Mathematiker vermutlich auf das sog. “Client-Server-Modell” der Informatik, bei dem zwischen den Rollen “Dienstnutzer/Client” und “Dienstleister/Server” unterschieden wird. https://de.wikipedia.org/wiki/Client-Server-Modell ↩