Die moralische Verpflichtung der Vorsicht – Individuelles und systemisches Risiko1
Nassim Nicholas Taleb, Joseph Norman
Vorsichtsmaßnahmen skalieren nicht. Die Sicherheit von allen kann eine übermäßige Risikovermeidung des Einzelnen erfordern, selbst wenn diese mit den eigenen Interessen und Vorteilen im Konflikt steht. Dadurch kann es auch wichtig werden, dass sich ein Individuum um Risiken sorgt, die für sie oder ihn selbst vergleichsweise unbedeutend sind.
Nehmen wir an, es gäbe das Risiko einer multiplikativen, viralen Epidemie in ihrem Anfangsstadium. Das Risiko, mit dem Virus infiziert zu werden, ist für das Individuum sehr gering, geringer als für andere Krankheiten oder Gebrechen. Aus diesem Grund ist es “irrational” in Panik zu geraten, also unverzüglich und mit hoher Priorität zu handeln. Aber falls der Einzelne nicht in Panik gerät und eher stark zurückhaltend handelt, wird er oder sie zur Verbreitung des Virus beitragen, was zu einer ernsthaften Quelle systemischen Schadens wird.
Aus diesem Grund muss jeder individuell “in Panik geraten”, das heißt scheinbar übertrieben reagieren, um systemische Probleme zu vermeiden — sogar dann, wenn der unmittelbare individuelle Nutzen dies scheinbar gar nicht nötig macht. Du schädigst andere Menschen, indem Du nicht “überreagierst”.
So etwas passiert, wenn das systemische Risiko für alle existiert, für das Individuum aber sehr klein ist und andere, spezifische Risiken ihr oder sein Leben dominieren. Das Risiko eines Autounfalls beispielsweise mag für ein Individuum größer, für die Gesellschaft insgesamt aber kleiner sein.
Unter diesen Rahmenbedingungen ist es egoistisch, ja vielleicht sogar psychopathisch, so zu handeln, was gemeinhin als “rationales” Verhalten bezeichnet wird — also die eigene, unmittelbare Risikoeinschätzung in Konflikt mit der der Gesellschaft zu bringen, für die dadurch sogar Risiken erzeugt werden. Kurz gesagt: Du wirst Dich selbst schädigen, wenn Du diese “irrationalen” Risiken ignorierst. Dies ähnelt stark anderen sog. “Tragödien des Allgemeinguts”,2 außer dass es hier um Leben und Tod geht.
Zusätzlich muss zwischen kurzfristigen und langfristigen spezifischen Risiken abgewogen werden. Auf lange Sicht konvergieren spezifische, individuelle und systemische Risiken: Dein persönliches Risiko steigt, wenn alle anderen infiziert sind, die Überlebensrisiken anderer Krankheiten sinken dann.
Während etwa einer Pandemie, die großteils junge, gesunde Individuen verschont, kann ein davon unabhängiger Notfall aufgrund fehlender Ressourcen schnell unbehandelbar werden, auch wenn dieser sonst Routine ist. Zusätzlich wird es im Rahmen schwerer gesellschaftlicher Zusammenbrüche viele neue, zusätzliche Risiken für alle Beteiligten geben, die sich nicht auf das ursprüngliche, kurzfristige Risiko einer Infektion reduzieren lassen.
Während des aktuellen Ausbruchs von COVID-19 können solche Effekte sehr gut beobachtet werden, z.B. auch auf lokaler Ebene durch die Auslastung von Krankenhäusern und ihren Intensivstationen. Diese und andere, weniger sichtbare Grenzbereiche verändern die Dynamik der Pandemie. Zunächst kleine Risiken werden verstärkt und erzeugen neue und unvorhergesehene Risiken, weil die Ansteckung systemweite Auswirkungen hat. Vorsichtsmaßnahmen skalieren auf eine konvexe3 Art und Weise für kreuzweise-abhängige, kleine und spezifische Risiken, die auf der Ebene des Gesamtsystems zu dynamischen, extrem großen Risiken werden.
Aus diesem Grund ist für alle Individuen die umsichtige und vor allem moralisch verpflichtende Handlungsweise, systemische Vorsicht walten zu lassen, und zwar auf der individuellen und lokalen Ebene vor Ort. Die multiplikative Ansteckungsgefahr führt dazu, dass das Individuum sehr viel stärker mit der Gemeinschaft verbunden wird. Dadurch wird jeder sowohl eine mögliche Quelle als auch ein potentieller Träger des Risikos.
Hinweis: Die Randnotizen des Originals wurden kursiv gesetzt in den Text eingearbeitet.
Fußnoten
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Dies ist eine deutsche Übersetzung des Artikels “Ethics of Precaution: Individual and Systemic Risk” von Nassim Nicholas Taleb und Joseph Norman, der am 15.03.2020 erschienen ist. http://jwnorman.com/wp-content/uploads/2020/03/Ethics_of_Precaution_Individual_and_Syst.pdf ↩
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“Tragik der Allmende (engl. tragedy of the commons), Tragödie des Allgemeinguts, […] bezeichnet ein sozialwissenschaftliches und evolutionstheoretisches Modell, nach dem frei verfügbare, aber begrenzte Ressourcen nicht effizient genutzt werden und durch Übernutzung bedroht sind, was auch die Nutzer selbst bedroht.” https://de.wikipedia.org/wiki/Tragik_der_Allmende ↩
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Siehe hierzu Talebs Buch “Antifragilität” oder auch den Artikel “Die Masken-Maskerade”. ↩