Das Orthodoxie-Privileg1
Paul Graham
In der letzten Zeit gab es viele Diskussionen über Privilegien. Obwohl das Konzept übermäßig verwendet wird, so sollte man dennoch etwas darauf geben: Insbesondere nämlich, dass Privilegien uns blind machen – also dass wir Dinge nicht sehen können, die aber für jemanden sichtbar sind, dessen Leben ganz anders als unseres ist.
Eines der allgegenwärtigsten Beispiele dieser Blindheit ist eines, das meines Wissen bisher nicht explizit erwähnt worden ist. Ich werde es das Orthodoxie-Privileg nennen: Je konventioneller jemand in seinem Denken ist, desto eher haben solche Personen den Eindruck, dass es für alle sicher wäre, ihre Meinung zu äußern.
Es ist für diese Menschen sicher ihre Meinung zu äußern, weil der Ursprung ihrer Meinung das ist, was auch immer gerade für salonfähig gehalten wird. Also erscheint es ihnen so, als müsste es für alle sicher sein. Sie können sich buchstäblich keine wahre Aussage vorstellen, die sie in Schwierigkeiten bringen würde.
Dabei gab es zu jedem Zeitpunkt in unserer Geschichte Wahrheiten, die einen in schreckliche Schwierigkeiten brachten, wenn man sie aussprach. Ist unsere Gegenwart das erste Mal, wo dies nicht zutrifft? Das wäre doch wirklich ein unglaublicher Zufall.
Sicherlich sollte doch eher die Standard-Annahme sein, dass unsere Zeit nicht einzigartig ist und dass es Wahrheiten gibt, die man nicht sagen darf, so wie es eben schon immer gewesen ist. So sollte man wohl meinen. Aber sogar angesichts dieser überwältigenden historischen Beweise werden sich die meisten Leute bei dieser Sache auf ihr Bauchgefühl verlassen.
Das Orthodoxie-Privileg äußert sich normalerweise durch die Frage: “Warum sagst Du es nicht einfach?” Wenn Du glaubst, es gäbe eine Wahrheit, die man nicht sagen darf, warum bist Du dann nicht mutig und stehst hinter ihr? Extremere Menschen werden Dich sogar ganz spezifischer “Ketzereien” beschuldigen, die Du aus ihrer Sicht im Sinn hast. Falls es jedoch mehr als eine einzige aktuelle “Ketzerei” in Deiner Zeit gibt, werden diese Beschuldigungen eher nicht-deterministisch sein: Du musst also entweder ein \(x\)ist oder \(y\)ist sein.
So frustrierend der Umgang mit solchen Menschen ist, es ist wichtig einzusehen, dass sie es ernst meinen. Sie tun nicht nur so, als hielten sie es für unmöglich, eine Idee könne gleichzeitig unorthodox und wahr sein. Die Welt sieht für sie wirklich so aus.
Wie also reagiert man auf das Orthodoxie-Privileg? Ihm schon alleine einen Namen zu geben, hilft gewisserweise, weil es uns direkt daran erinnert, warum sich Gesprächspartner so merkwürdig uneinsichtig zeigen. Eben weil es ein auf einzigartige Weise hartnäckiges Privileg ist. Menschen können die Blindheit überwinden, die durch die meisten Arten von Privilegien verursacht werden, indem sie mehr darüber erfahren, was auch immer sie selbst nicht sind. Aber das Orthodoxie-Privileg können sie nicht überwinden, in dem sie mehr darüber erfahren. Sie müssten unabhängiger, freigeistiger denken. Falls so etwas überhaupt passiert, so passiert es nicht im Zeitrahmen von einer Unterhaltung.
Es könnte möglich sein, einige Leute davon zu überzeugen, dass das Orthodoxie-Privileg existiert, auch wenn sie selbst es nicht bemerken – so ähnlich wie zum Beispiel mit dunkler Materie. Es könnten beispielsweise sogar einige Menschen davon überzeugt werden, dass es sehr unwahrscheinlich wäre, wenn wir der erste Zeitpunkt in der Geschichte wären, in dem es nichts Wahres gäbe, was man nicht sagen darf – auch wenn sie sich keine konkreten Beispiele vorstellen können.
Aber abgesehen von diesen Menschen wird es mit niemandem funktionieren zu sagen “Hinterfrage Deine Privilegien”, wenn es um das Orthodoxie-Privileg geht, weil diese Bevölkerungsgruppe nicht bemerkt, dass sie darin ist. Konventionell denkende Menschen sehen es nicht so, dass sie konventionell denken. In der Tat sind sie sich sogar ganz besonders sicher.
Vielleicht ist die Lösung, an die Höflichkeit zu appellieren. Wenn jemand sagt, er könne einen hohen Ton hören und Du hörst ihn nicht, dann ist es nur höflich dies der Person zu glauben, anstatt Beweise zu verlangen die nicht erbracht werden können oder einfach zu bestreiten, dass die Person irgendetwas hört. Wie unhöflich wäre das denn. Gleichermaßen, wenn jemand äußert er könne sich Dinge vorstellen, die wahr sind aber nicht gesagt werden dürfen, dann ist es nur höflich, dies zu glauben auch wenn Du Dir selbst keine solchen Dinge vorstellen kannst.
Sobald man realisiert, dass das Orthodoxie-Privileg existiert, werden auch viele andere Dinge klarer. Zum Beispiel, wie kann es sein, dass eine große Menge vernünftiger, intelligenter Menschen sich über etwas wie “Cancel Culture” Sorgen macht, während andere vernünftige, intelligente Menschen bestreiten dies wäre überhaupt ein Problem? Sobald Du das Konzept des Orthodoxie-Privilegs verstanden hast, ist es auch sehr einfach die Quelle dieser Uneinigkeit zu sehen. Wenn Du glaubst, es gäbe keine Wahrheit, die man nicht aussprechen darf…dann muss jeder, der für Äußerungen in Schwierigkeiten gerät, dies auch verdienen.
[Ergänzung bei der Übersetzung: Siehe hierzu auch den Artikel “Die vier Quadranten des Konformismus”. Ein verwandtes Thema ist auch das sog. “Overton Fenster”.2]
Fußnoten
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Dies ist eine deutsche Übersetzung des Artikels “Orthodox Privilege” von Paul Graham, der im Juli 2020 erschienen ist. http://paulgraham.com/orth.html ↩
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“Als Overton-Fenster wird der Rahmen an Ideen bezeichnet, die im öffentlichen Diskurs akzeptiert werden, unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Moral.” https://de.wikipedia.org/wiki/Overton-Fenster ↩